DLV-Chef Clemens Prokop zur Sportreform „Erfolg bemisst sich nicht nur an Medaillen“

Jochen Klingovsky 
Clemens Prokop fungiert seit 2001 als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).dpa

Clemens Prokop, dem Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), missfällt, dass im Zuge der anvisierten Spitzensportreform künftig vor allem Medaillen zählen sollen. Und er fordert mehr Geld von der Politik für den Sport und den Antidopingkampf.

Stuttgart - Die deutschen Athleten haben bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 42 Podestplätze erreicht – zu wenige aus Sicht der Verantwortlichen. Sie wollen den Spitzensport reformieren. Über ihre Vorschläge wird an diesem Mittwoch auch bei der Bundestrainer-Tagung in Stuttgart diskutiert. Kritik kommt von Clemens Prokop. Dem Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) missfällt, dass künftig vor allem Medaillen zählen. „Es muss allen Beteiligten klar sein, dass es schwierig ist, nur dank eines überlegenen Trainingssystems mit Nationen mitzuhalten, die sich durch unzureichende Kontrollsysteme einen Vorteil sichern“, sagt Prokop.

Herr Prokop, die deutschen Leichtathleten haben bei den Olympischen Spielen in Rio zwar zweimal Gold gewonnen, aber auch viele Enttäuschungen erlebt. Welche Konsequenzen hätte es für Werfer, Springer und Läufer, wenn die Spitzensportreform schon jetzt umgesetzt wäre?
Vermutlich keine.
Keine?
Ich gehe davon aus, dass sich für die Leichtathletik nichts verändern würde, denn Ereignisse und Ergebnisse aus der Vergangenheit spielen bei der Frage, in welchem Umfang eine Sportart künftig gefördert wird, keine entscheidende Rolle mehr.
Sondern?
Es geht darum, die Perspektive einer Sportart einzuschätzen – und diese hat sich in der deutschen Leichtathletik durch Rio ja nicht verändert: Wir sind dank der vielen Talente, die wir haben, für die Zukunft sehr gut und breit aufgestellt.
Folglich finden Sie die Reformvorschläge gut?
Zumindest sind viele interessante, wichtige und zukunftsfähige Aspekte dabei.
Aber?
Es gibt auch berechtigte Kritikpunkte.
Zum Beispiel?
Die sehr starke Fixierung auf Medaillen. Es geht in dem vorgelegten Konzept vor allem darum, wer in vier bis acht Jahren auf dem Podium stehen kann – nur der absolute Erfolg zählt.
Was ist daran falsch?
Dass nicht berücksichtigt wird, wie stark die internationale Konkurrenz in einer Sportart ist – es wäre doch nicht richtig, vor allem Disziplinen zu fördern, die weltweit nur wenig verbreitet sind. Dass es auch pädagogische Gründe gibt, eine Sportart zu fördern. Und dass das Thema Doping ausgeklammert wird.
Was Sie besonders stören dürfte.
Zumindest müssen sich deutsche Leichtathleten mit Konkurrenten aus Ländern wie Kenia, Jamaika oder Äthiopien messen, in denen eine funktionierende Antidopingbekämpfung angezweifelt wird. Erfolg bemisst sich nicht nur an Medaillen.

Unzureichende Dopingkontrollsysteme in anderen Ländern

Trotzdem fordert Bundesinnenminister Thomas de Maizière für Tokio 2020 ein Drittel mehr Medaillen als zuletzt in Rio, wo es für Deutschland 42 Podestplätze gab.
Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel . . .
. . . und aus Sicht mancher Kritiker eine indirekte Aufforderung zum Dopen.
Der Minister hat stets erklärt, nur für einen ethisch und moralisch sauberen Sport zu stehen. Andererseits muss allen Beteiligten klar sein, dass es schwierig ist, nur dank eines überlegenen Trainingssystems mit Nationen mitzuhalten, die sich durch unzureichende Kontrollsysteme einen Vorteil sichern. Wir müssen bei unserer Sportförderung in Deutschland die internationalen Rahmenbedingungen berücksichtigen.
Gibt es eine Leichtathletik-Disziplin, für die das ganz besonders gilt?
Nehmen Sie den 100-Meter-Lauf. Julian Reus ist kurz vor Olympia in 10,01 Sekunden deutschen Rekord gelaufen. Eine absolute Ausnahmeleistung. In Rio hat er aber, wie schon zuvor bei der EM in Amsterdam, den Endlauf verpasst.
Weil die Konkurrenz zu stark ist?
Ja. Und weil sie womöglich anders kontrolliert wird als unsere Sprinter. Und nun muss sich der deutsche Sport schon fragen, ob er deshalb eine unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten so zentrale Disziplin wie den Männersprint künftig nicht mehr fördern will.
Ihre Antwort?
Das darf nicht passieren.

Unvorhersehbarkeit des Sports lässt sich nicht mathematisch berechnen

Was kritisieren Sie noch?
Künftig wird, um die Zukunftsfähigkeit einer Sportart zu ermitteln, ein Potenzialanalysesystem eingesetzt. Einige der 20 Haupt- und 59 Nebenattribute, nach denen bewertet wird, sind für mich nicht nachvollziehbar.
Zum Beispiel?
Positives Merkmal für die Perspektive soll sein, dass eine Sportart einen Verbandsvertreter in einem internationalen Gremium sitzen hat.
Was spricht dagegen?
Dass kein Sprinter schneller wird, nur weil sein Präsident Funktionär auf internationaler Bühne ist. Und dass es außer Acht lässt, unter welch ethisch und politisch fragwürdigen Kriterien derartige Gremien hin und wieder besetzt werden.
2015 wurden Sie nicht ins Council des Leichtathletik-Weltverbandes gewählt – sprechen Sie aus Erfahrung?
So könnte man es ausdrücken. Und ich stelle mir bei dem Potenzialanalysesystem – bei allem Verständnis für das Bemühen um eine objektivierte und transparente Förderung – schon auch die grundsätzliche Frage, ob es möglich ist, die Unvorhersehbarkeit des Sports mathematisch zu berechnen. Dann bräuchte es ja keinen Wettkampf mehr, keine Duelle David gegen Goliath, die ja gerade den Reiz des Sports ausmachen. Das ist sicherlich eine extrem schwierige Gratwanderung.

Gewaltiger bürokratischer Aufwand

Was stört Sie noch an dem Reformpapier?
Zwei zusätzliche Punkte kann ich nennen: Das Potenzialanalysesystem und die danach folgenden Strukturgespräche bedeuten vermutlich einen gewaltigen bürokratischen Aufwand, der die Verbände weit über das bisherige Maß hinaus fordern wird.
Und der zweite Punkt?
Es wird von den Fachverbänden verlangt, dass ihre hauptamtlichen Sportdirektoren Vorstandsmitglieder mit autonomer Entscheidungsgewalt sein müssen. Das kann zwar sinnvoll sein, als zwingende Vorgabe an die Struktur ist es aber eindeutig ein unzulässiger Eingriff in die Verbandsautonomie. Dagegen müssen sich alle Fachverbände wehren.
Es gibt etliche Änderungswünsche, natürlich nicht nur von Ihnen. Besteht die Gefahr, dass die Reform zerredet wird?
Vermutlich nicht. Aktuell unternehmen der Deutsche Olympische Sportbund und das Bundesinnenministerium große Anstrengungen, um die Reform möglichst schnell in Kraft zu setzen.
Sie soll am 3. Dezember bei der DOSB-Mitgliederversammlung in Magdeburg verabschiedet werden.
Das ist zwar ein ambitionierter Zeitplan, aber ein alternativloser. Nächstes Jahr ist Bundestagswahl, da werden im Laufe des Jahres politisch relevante Reformen schwieriger werden.
Was wird am Ende von der ursprünglich angedachten Reformidee übrig bleiben?
Ein Fördersystem für den deutschen Sport, das zukunftsbezogen ist. Eine objektive, transparente Bewertung der Perspektive für jede Sportart, an der auch externe Experten beteiligt sind. Und neue Impulse für die duale Karriere von Athleten.

Vorbild Großbritannien

Ist das der große Wurf, den der deutsche Sport nach Ansicht von DOSB-Präsident Alfons Hörmann und Innenminister Thomas de Maizière benötigt?
Vorbild ist das zentralisierte britische Modell, das vor den Olympischen Spielen 2012 in London initiiert wurde und die Briten bis heute in den absoluten Topbereich des internationalen Sports katapultiert hat.
Sauber?
Dazu fehlen mir die Erkenntnisse.
Aber auf jeden Fall mit viel Geld.
Das stimmt. Aber auch bei uns gilt: Wenn die Reform nur dazu dient, das vorhandene Fördergeld des Bundes . . .
. . . rund 160 Millionen Euro pro Jahr . . .
. . . anders zu verteilen, dann bezweifle ich, dass die erhofften Erfolge eintreten.
Sie fordern mehr Geld für den Sport?
Damit steht und fällt die Sinnhaftigkeit der Reform. Es muss eine deutliche Erhöhung kommen.
Um welche Summe?
Das kann ich nicht genau beziffern. Aber klar ist für mich: Wenn man festgestellt hat, dass eine Sportart eine sehr gute Perspektive hat, dann muss man sie auch mit größeren Mitteln fördern als bisher. Sonst funktioniert das neue System nicht. Und Ziel muss sein, möglichst alle Sportarten in die höchste Förderstufe zu bringen.

Welt-Antidopingagentur braucht mehr Geld

Was braucht es noch?
Die Kaderathleten müssen Anwartschaften in der Rentenversicherung erlangen, um durch den Sport keine lebenslangen Nachteile zu haben. Und der weltweiten Dopingbekämpfung muss endlich oberste Priorität eingeräumt werden – das ist mit einer Erfolg versprechenden Förderung des Leistungssports untrennbar verbunden.
Wie ist der aktuelle Stand?
Seit das staatlich gesteuerte System in Russland aufgedeckt wurde, ist die wahre Dimension des Dopingbetrugs bekannt. Die Sportwelt weiß, dass sie an einem Wendepunkt angekommen ist: Entweder ihr gelingt beim Thema Glaubwürdigkeit rasch der Durchbruch, oder der Zuschauer wird ganz schnell das Interesse verlieren.
Was muss getan werden?
Es gibt keine einfachen Antworten, dafür prallen zu viele unterschiedliche Strukturen und politische Systeme aufeinander.
Hört sich nach Kapitulation an.
Nein, auf keinen Fall. Verpflichtend sind von Sport und Politik unabhängige Antidoping-Organisationen. Dann muss die Welt-Antidopingagentur sicherstellen, dass es weltweit einheitliche Standards gibt und diese auch eingehalten werden. Und zudem fordert die Wada vollkommen zu Recht mehr Geld. Mit ihrem Etat von bisher knapp 30 Millionen Euro pro Jahr ist eine weltweite Jagd nach Dopingsündern nicht zu stemmen.

Investitionen in die Glaubwürdigkeit des Sports

Woher soll das Geld kommen?
Der Sport ist ein Milliardenspiel, da ist genug Geld vorhanden. Man muss nur endlich erkennen, wie wichtig Werte wie Fair Play und Sauberkeit für den Sport sind.
Adidas zahlt pro Jahr allein an den Deutschen Fußball-Bund 50 Millionen Euro, streicht nun aber die 300 000 Euro, die jährlich als Unterstützung an die Nationale Antidopingagentur gingen.
Es ist absolut enttäuschend, dass Unternehmen, die unglaubliche Summen für Sportmarketing ausgeben, gleichzeitig nicht bereit sind, in die Glaubwürdigkeit des Sports zu investieren. Adidas steht da nur stellvertretend für andere, der bisherige Beitrag war schon lächerlich genug.
Welche Denkweise steckt dahinter?
Eine, die ich nicht verstehe. Logisch ist doch: Wenn es keine glaubwürdigen, sauberen Vorbilder im Sport mehr gibt, dann wirkt sich das irgendwann auch auf den Verkauf von Sportartikeln aus.

Clemens Prokop – DLV-Regent aus Regensburg

Clemens Prokop ist am 26. März 1957 in Regensburg geboren. 1975 wurde er deutscher Jugend-Hallenmeister im Weitsprung – seine Bestweite liegt bei 7,93 Meter (1977). 1979 beendete er seine sportliche Laufbahn zugunsten einer Karriere als Jurist. Seit 2011 ist er – nach sieben Jahren in gleicher Position in Kehlheim – Direktor des Amtsgerichtes Regensburg.

993 wurde Prokop Rechtswart des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) und 1997 dessen Vizepräsident. 2001 löste er Helmut Digel als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes ab und amtiert bis heute.