Der U-17-Nationaltrainer Michael Feichtenbeiner legt im Interview die Defizite der Nachwuchsarbeit in Deutschland offen und erklärt, warum er beispielsweise in den unteren Jahrgängen die Ergebnisse oder teilweise auch den Abstieg abschaffen würde.
La Manga - Man spricht Schwäbisch beim U-17-Nationalteam, das bis Sonntag ein Trainingslager in La Manga absolviert hat. Der Trainer Michael Feichtenbeiner ist wie der Teammanger Markus Löw als zweite hauptamtliche Kraft in Möhringen zu Hause, der Co-Trainer Stefan Minkwitz in Leonberg, die Talente Lilian Egloff und Jordan Meyer vom VfB Stuttgart wohnen in Cannstatt, Physiotherapeut Matthias Braunger ist ebenfalls Schawabe, die zwei Begleitlehrer kommen aus dem Tübinger Raum. Und man spricht Klartext, was die deutsche Jugendarbeit angeht, wie Michael Feichtenbeiner im Gespräch beweist.
Herr Feichtenbeiner, Ihre Jungs sind schon nah dran an der großen Karriere. Wie sehen Sie den Trend, dass die Spieler im Profigeschäft immer jünger werden?
Das hat natürlich viele Gründe. Als ich vor 35 Jahren als Trainer angefangen habe, hat man gesagt, dass ein 30-jähriger Spieler die notwendige Erfahrung hat, das waren die Führungsspieler. Wenn heute einer die 30 überschreitet, ist das schon fast ein K.-o.-Kriterium. Spieler wie Arjen Robben und Franck Ribéry, die mit 35 noch auf Topniveau sind, wird es immer weniger geben. Weil das Spiel schneller geworden ist, aber auch weil die Karrieren in der Jugend früher beginnen. Was die 15-, 16-Jährigen heute im Leistungszentrum für einen Tagesablauf haben, ist schon anstrengend. Danach noch 15, 20 Jahre auf Topniveau zu spielen, wird kaum einer durchhalten.
Ist das bedingt durch die Professionalisierung mit den Nachwuchsleistungszentren, dass die Talente früher die nötige Reife erlangen und die Karriere dann auch früher endet?
Ich war ja in den 80er Jahren beim VfB Stuttgart in der Nachwuchswuchsabteilung. Wenn ich sehe, wie heute da oder auch bei anderen Bundesligisten gearbeitet wird, mit wie viel hauptamtlichem Personal und was für einer Infrastruktur, ist das nicht vergleichbar. Dem zollt man Tribut. Ich denke, dass dieses Jahr noch der eine oder andere von unseren Jungs sein Bundesliga-Debüt geben wird. Wie viele sich aber dauerhaft in der Bundesliga durchsetzen und festbeißen, ist die andere Frage. Es kommen jetzt die schwierigsten Jahre.
Warum?
Ich denke, dass wir einiges in der Nachwuchsarbeit verbessern können. Nicht mehr von unten heraus, da ist schon alles sehr professionell. Aber die Übergänge zwischen der Jugend bis sich einer in der Bundesliga festgebissen hat, auf dieser kurzen Strecke von vielleicht drei Jahren, gehen zu viele Talente verloren. Weil sie die Widerstandsfähigkeit vielleicht nicht mitbringen. Sie sind die Stars in ihren Jahrgängen. Wenn sie den Schritt in die Bundesliga-Mannschaft machen, sind sie auf einmal in der Hierarchie ganz hinten, die, die Koffer tragen – damit kommt nicht jeder mit klar.
Sie müssen sich also erst einmal hinten anstellen.
Sie bekommen zu Beginn wenig Einsatzzeiten, weil es vielleicht auch keine zweite Mannschaft mehr gibt, werden vielleicht zu einem Zweitligisten verliehen, bei dem ein Trainer seinen Job retten muss und es ihn nicht interessiert, ob ein junger Spieler Einsatzzeit zur Entwicklung benötigt – da bleiben einige auf der Strecke.
Wie ließe sich das verhindern?
Da gibt es viele Baustellen, das ist bei jedem Verein anders. Generell ist Spielpraxis wichtig, deshalb wäre ich immer für eine zweite Mannschaft. Nur mit Training und Testspielen oder mal zwei Minuten in der Bundesliga werden die Toptalente nicht besser. Ich bin auch kein Freund von Leihgeschäften. Seine besten Spieler muss man selbst fördern und nur in Ausnahmefällen und aufgrund einer kurzfristig besseren Perspektive ausleihen. Man muss ein Auge auf sie werfen, wenn sie verschiedene Teams innerhalb eines Clubs durchlaufen. Es braucht jemand, der sie da begleitet. Da würde ich es begrüßen, wenn alle Topvereine einen Trainer oder Ansprechpartner hätten, der nur die Toptalente begleitet.
Was zeichnet die Talente aus, die letztlich Karriere machen?
Unsere Jungs haben von den 150 000 Fußballern des Jahrgangs 2002 die besten Voraussetzungen, bekommen die bestmögliche Ausbildung im Verein, bekommen bei uns internationale Erfahrung. Am Schluss kommen die oben an, die widerstandsfähiger sind, die auch mal beißen können, wenn sie mal drei Monate nicht in der Bundesliga spielen. Irgendwann ist vielleicht der Trainer schuld, der Berater sitzt beim Manager und dann wird er ausgeliehen. Sich gegen Widerstände durchzubeißen, ist schwierig. Es gibt eine Youth Champions League mittlerweile, viele Länderspiele und Europameisterschaften bei uns. Dann zu akzeptieren, in Fürth oder Sandhausen zu spielen, wenn einer vorher gegen Brasilien oder Italien gespielt hat, dafür muss man im Kopf vorbereitet sein und seine eigene Leistungsstärke und Entwicklung realistisch einschätzen.
Die U-17-Toptalente Jordan Meyer und Lilian Egloff vom VfB Stuttgart – lesen Sie hier mehr
Muss man das Rad also zumindest in Teilen zurückdrehen?
Meiner Meinung nach ja. Ich glaube, dass wir – wohlgemeint – ein bisschen zu viel machen. Die Persönlichkeiten, die wir immer gerne haben wollen, werden alle in ein System gepresst. Die Akademien waren vor 19 Jahren, als sie entstanden sind, ein Riesensprung gegenüber den früheren Nachwuchsabteilungen. Aber wir müssen aufpassen, dass wir auch noch Persönlichkeiten entwickeln. Schlagwort Straßenfußballer. Früher gab es viele Spieler, die im Elternhaus gewohnt haben, drei Stunden auf dem Bolzplatz gekickt haben und dann ins Training sind. Bei den Spielern auf den Internaten ist dagegen der ganze Tag vom morgens bis abends durchgetaktet.
Wie kann man denn das System aufbrechen?
Wenn man schon in der U13 Ergebnisfußball spielt, bildet man nicht mehr aus. Das ist für den Nachwuchsfußball kontraproduktiv. Da überlegen wir als DFB, wie wir unterstützend einwirken können. Wenn wir über die Landesgrenzen hinausschauen, sehen wir schon, dass es in anderen Ländern anders läuft.
Wie?
In Belgien gibt es in unteren Jahrgangsstufen keine Ergebnisse. Oder nicht zu früh im mannschaftstaktischen Rahmen sieben gegen sieben spielen, sondern zwei gegen zwei. Die Spieler haben damit im Eins-gegen-eins zwangsläufig mehr Erfahrungswerte und sind da tendenziell besser. Wir sind taktisch sicher gut. Aber wenn ich mir Spiele anschaue, sehe ich junge Trainer, die ihre Vorbilder in der Bundesliga haben, da ja auch viele junge Trainer wie Julian Nagelsmann oder Domenico Tedesco in den letzten Jahren Karriere gemacht haben. Trainer wie Norbert Elgert, der bei Schalke 04 seit 20 Jahren Ausbilder ist und immer wieder große Spieler rausgebracht hat wie Manuel Neuer oder Mesut Özil, ist zum Beispiel ein klasse Vorbild. Wenn man dagegen seine Vorbilder nur in der Bundesliga sucht, will man zu schnell Erfolg, um selbst dort hinzukommen. Die Entwicklung rückt dadurch in den Hintergrund.
Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Unsere Vormachtstellung, die wir lange Zeit hatten, weil wir einfach viele Mitglieder und viele Jugendspieler haben und dadurch eine große Auswahl, haben wir eingebüßt. Dafür, wie viele Spieler wir im Land haben, kommt zu wenig an Qualität heraus. Da haben andere Länder aufgeholt. Warum gibt es in der U15 Abstiegskampf? Das ist nicht im Sinne der Ausbildung.
Die Franzosen und Engländer bringen zurzeit einen jungen Topspieler nach dem anderen heraus. Was machen sie besser?
Ich habe den Engländer Jaden Sancho vor zwei Jahren gegen unseren 2000er-Jahrgang gesehen. Er war rotzfrech, eine Maschine – ein Straßenfußballer. Bei den Franzosen sind es viele Spieler – das sieht man ja auch an den Biografien von Spielern wie Ousmane Dembélé oder Kylian Mbappé – aus sozial schwierigeren Verhältnissen. Sie haben oft eine brutale Athletik und sind Straßenfußballer, die wissen, dass sie durch den Fußball sozial aufsteigen können. Da ist die Motivation ungleich höher, als wenn einer bei uns in der U15 schon beim VfB oder FC Bayern spielt und vieles im Alltag abgenommen bekommt. Wenn wir gegen solche Mannschaften spielen, sind wir vergleichsweise zu vorsichtig und brav.
Was gibt es für Lösungsansätze?
Eine Idee ist es, in den unteren Jahrgängen den Abstieg abzuschaffen und noch weiter unten die Ergebnisse, das würde den Trainern helfen. Ich denke, dass viele Trainer auch bereit dafür wären. Wir sind im Jugendfußball ja alle in erster Linie Ausbilder. Es macht doch stolz zu sehen, wie aus Kindern heranwachsende Männer werden, die dann in der Bundesliga oder sogar bei Joachim Löw im Nationalteam auftauchen – das ist etwas Schönes.